So lange, bis ich endlich unter Gottes Erbarmen, Tage und Nächte lang nachdenkend, meine Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang der Worte richtete, nämlich 'Die Gerechtigkeit Gottes wird darin offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben', - da begann ich die Gerechtigkeit Gottes verstehen lernen als die Gerechtigkeit, in der der Gerechte durch Gottes Geschenk lebt, und zwar aus dem Glauben, und ich fing an zu verstehen, daß dies die Meinung ist, es werde durch das Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbart, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben.
Da fühlte ich mich völlig neugeboren und als wäre ich durch die geöffneten Pforten ins Paradies selbst eingetreten. Da zeigte mir sogleich die ganze Schrift ein anderes Gesicht. Ich durchlief darauf die Heilige Schrift, und sammelte auch in andren Ausdrücken einen entsprechenden Sprachgebrauch, wie z.B. 'Werk Gottes', d.h. das Werk, das Gott in uns schafft; 'Kraft Gottes', durch welche er uns kräftig macht; 'Weisheit Gottes', durch welche er uns weise macht usw.
So groß vorher mein Haß war, mit dem ich das Wort 'Gerechtigkeit Gottes' gehaßt hatte, so groß war jetzt die Liebe, mit der ich es als allersüßestes Wort rühmte. So ist mir diese Stelle des Paulus wahrhaft zu einer Pforte des Paradieses geworden. Später las ich Augustin 'Vom Geist und vom Buchstaben' (aus dem Jahr 412), wo ich wider Erwarten darauf stieß, daß auch er die Gerechtigkeit Gottes ähnlich auslegt: als diejenige, mit der uns Gott bekleidet, indem er uns rechtfertigt. Und obgleich dies noch unvollständig gesagt ist und Augustin über die Zurechnung (imputatio) (der Gerechtigkeit Gottes) nicht alles klar entwickelt, so wollte er doch, daß Gottes Gerechtigkeit gelehrt werde (als solche), durch die wir gerechtfertigt werden.
Zitiert nach Walter von Löwenich, Martin Luther. Der Mann und das Werk, München 1982 S. 80f