<<vorige Seite             Seite 4          nächste Seite >>

READER—Was kommt nach dem Tod?

Textfeld: Platon, Über die Unsterblichkeit
Was ist der Mensch? Diese Frage ist nicht leicht und keineswegs eindeutig zu beantworten. Ja, es scheint, daß sie sich einer endgültigen Antwort entzieht. Ständig jedoch wird versucht, Modelle zu entwickeln, die Teilantworten auf die Frage nach dem Wesen des Menschen geben. Ein derartiges Erklärungsmodell verwendet die platonische Philosophie: Der Mensch wird hier verstanden als die Einheit aus einem stofflichen Leib und einer geistigen Seele. Dieses Bild scheint bestätigt durch eine Reihe von Erfahrungen: Offensichtlich unterliegt der Mensch biologischen Prozessen wie andere Lebewesen auch. Aber der menschliche Geist überschreitet diese biologische Grundlage immer wieder: Er kann logische Schlüsse ziehen, sich einen Staat entwerfen, in dem es gerecht und menschlich zugeht. Der Mensch strebt nach Glück und versucht, sein Schicksal zu verstehen und anzunehmen. - Äußert sich darin nicht eine »geistige Seele«?
Das Besondere der geistigen Seele sieht Platon darin, daß sie über Bewusstseinsinhalte verfügt, die sie nicht »erlernen« konnte. Die Gesetze der Logik etwa sind aus sich der Seele einsichtig; die Vorstellung von der Gerechtigkeit kann ein Mensch auch dann besitzen, wenn er unter ungerechten Verhältnissen lebt.
Diese Prägung der Seele erklärt die platonische Philosophie durch eine anschauliche Vorstellung: Ehe die Seele mit dem Körper verbunden wurde, existierte sie bereits im Reich der »Ideen«, d.h. der geistig reinen Formen, deren Abbild die »Wirklichkeit« ist. Damals konnte die Seele unmittelbar die Gesetze der Logik, die Wesenheit der Erscheinungen und die Erfüllung des Lebens anschauen. Im Körper des Menschen aber lebt die Seele wie eine Gefangene. Plump und erdenschwer hemmt der Körper ihre Reinheit und Vollkommenheit. Denn der Leib ist auf das Banale, Unwesentliche gerichtet: auf Essen und Trinken, Schlafen und Verdauen. Die Seele allein hat teil an allem Vollkommenen und Göttlichen. Sie strebt nach dem Wahren, Schönen und Guten.
In der literarischen Form des Dialogs entwickelt Platon mehrfach derartige Vorstellungen. Im Dialog >Phaidon< bedenkt er auch das Schicksal der Seele nach dem Tod des Körpers.
(Sokrates:) Und jetzt nimm alles zusammen, was wir gesagt haben, Kebes, ergibt sich da nicht aus allem, daß die Seele das Ebenbild und der Sinn sei alles GöttliTextfeld: chen und Vernünftigen, jeder bleibenden Gestalt, des Unauflöslichen und in sich selbst Ruhenden, und daß der Leib zum Menschlichen und Sterblichen und Vielgestaltigen und Unvernünftigen und Auflösbaren und sich selber stets Fremden gehöre? Oder haben wir, geliebter Kebes, einen Einwand, der dagegen spräche? - Nein, wir haben keinen. - Und wenn das richtig ist, muß sich dann der Leib nicht schnell auflösen, und ist es nicht der Seele eigen, unauflösbar zu sein, wenigstens zum Teile?
- Natürlich.-... Die Seele aber, die unsichtbare, die in ein unsichtbares, hohes und reines Reich eilt, in die wahre Welt der Geister, zu dem guten und weisen Gotte, dorthin, wohin auch, so Gott will, meine Seele bald ziehen wird, diese hohe und reine, der Geisterwelt eingeborene Seele sollte, vom Leibe entbunden, zerfallen und vergehen, wie es die Menge glaubt? Nein, nein, Kebes und Simmias, ihr Freunde:
Ich sage, so die Seele, die reine Seele sich des Leibes entledigt und nichts vom Leibe mit sich schleppt, weil sie im Leben schon freiwillig nichts mit ihm gemein hatte und vor ihm geflohen und in sich selber gesammelt und nur um diese Sammlung besorgt war... Dann, sage ich, scheidet die Seele von hinnen in das ihr angestammte, unsichtbare, göttliche, ewige Reich der Vernunft, dort darf sie sich ihres Heiles freuen, erlöst vom Irrtum, von der Sinnlosigkeit, der Angst, der wilden Liebe und allen Übeln, und dort lebt sie wahrhaftig, wie es unter den Eingeweihten heißt, mit den Göttern.

aus: Konzepte 3. Materialien für den Religionsunterricht in der Sekundarstufe II S. 32f